Herr Professor Koschut, stehen wir vor einem gesellschaftspolitischen Umbruch, den wir so noch nicht wirklich ermessen können?
Simon Koschut: "So fühlt sich das jedenfalls an. Es gibt namhafte Journalisten, die heraufbeschwören, dass schwierige Zeiten auf uns zukommen. Und das liegt natürlich auch an diesen künstlichen Intelligenzsystemen, die als disruptive Systeme die Welt nachhaltig beeinflussen werden."
Sind Politik und Gesellschaft darauf vorbereitet?
Simon Koschut: "Gute Frage, kurze Antwort: Nein. Die KI ist Teil eines größeren digitalen Wandels, der ja schon länger im Gange ist. Die KI ist vielleicht die radikalste der vielen neuen Technologien, die diesen Wandel nun befeuert. Das ist eine Umbruchphase, die vergleichbar ist mit der Industrialisierung – ähnlich wie die Erfindung der Dampfmaschine oder des Computers. Das sind alles erstmal nur Innovationen gewesen, deren Auswirkungen zunächst nicht absehbar waren. An genau dieser Stelle befindet sich der Zusammenhang zwischen digitalem Wandel, Gesellschaft und Politik, der nun große Unsicherheit auslöst. Ich will nicht Krise sagen. Aber diese Unsicherheit bewegt die Menschen sehr – und nicht nur in Europa. Das fängt beim Klimawandel an, geht über Corona bis hin zum Ukraine-Krieg. Und dann kommt eben jetzt noch die KI dazu, die vielen Menschen Angst macht."Was hat die Unsicherheit für politische Auswirkungen?
Simon Koschut: "Zunächst einmal führt es dazu, dass viele Menschen sich nach starken Führungspersönlichkeiten sehnen. Vor allen Dingen nach rechtspopulistischen, die ja sehr gut darin sind, Ängste zu schüren und mit einfachen Antworten zu arbeiten. Ich muss die Namen nicht alle nennen, die da in den letzten Jahren hervorgetreten sind. An vielen Stellen sehen wir, wie das die politische Weltbühne bewegt. Es beschwört einen Systemkonflikt zwischen liberalen und illiberalen Staaten und denen, die sich dazwischen befinden. Staaten wie Brasilien, Indien und Südafrika positionieren sich neu. Denn der technologische Wandel gibt deren autoritären Kräften enormen Auftrieb. Die verstehen es, sich die neue Technologie zunutze zu machen: Es ist viel einfacher als früher, Lügen zu verbreiten oder Fake News oder auch Propaganda. Man kauft sich einfach in Medien ein, inländische und ausländische, um dort politische Botschaften zu verbreiten. So sehen wir diesen Dreiklang – digitaler Wandel, Politik und Gesellschaft – auch in der Sicherheitspolitik: ein freiheitlicher Systemkonflikt der Staaten, eine Zunahme autoritärer Politik und ein Gefühl der Unsicherheit in der Gesellschaft. Das ist eine problematische Mischung, die die jetzige Umbruchphase stark prägt und prägen wird."Zum Thema
Wie lässt sich denn diesem Unsicherheitsgefühl etwas entgegenstellen? Wie kann man Vertrauen bilden?
Simon Koschut: "Ich denke, es braucht mehr Orientierung. Das Unsicherheitsgefühl kommt daher, dass keiner so richtig weiß, wo es hingeht. Ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Punkt. Ich habe das auch schon selber im Gespräch mit Entscheidungsträger:innen aus der Politik so wahrgenommen. Da fallen häufiger Sätze wie: ‘Früher wusste ich, was zu tun ist als Politiker:in. Da hatte ich einen klaren Kompass und wusste, wo ich mich in der Politik verorten muss. Jetzt weiß ich es nicht mehr.’ Viele sind sozusagen genauso ratlos wie ihre Wähler:innen, die auch gar nicht mehr so genau wissen, wo es hingehen soll. Das erkennt man an volatilen Wahlergebnissen.
Und das andere ist tatsächlich auch der Faktor Zeit. Der digitale Wandel hat alles beschleunigt. Alles ist schnell- und kurzlebiger geworden. Strategisches Vorausdenken und Langzeitpläne sind heute fast gar nicht mehr möglich. Ministerien haben dafür gar keine Zeit mehr, weil sie sich immer mit einem schnelllebigen Frage-Antwort-Spiel auseinandersetzen müssen – Stichwort Social Media und E-Mails."
Wissen sie denn, wohin der Zug steuern könnte?
Simon Koschut: "Nein, das weiß ich auch nicht, sonst wäre ich doch in die Politik gegangen. Spaß beiseite. Wenn wir das weltpolitisch betrachten, haben wir auf der einen Seite ein System, das bisher ganz gut funktioniert hat – dominiert von einer liberalen, internationalen Weltordnung –, das nun jedoch eine Legitimitätskrise hat. Weil es neue Staaten gibt, die auch mitspielen und mitreden wollen und das natürlich auch zu Recht. Weil sie beispielsweise eine große Bevölkerung haben, wie China und Indien, oder über wichtige Ressourcen verfügen, wie Saudi-Arabien. Das Problem ist allerdings, dass die meisten dieser Staaten ein politisches System repräsentieren, dass wir nicht haben wollen. Das ist der Grundkonflikt. Wir schaffen es nicht, diese Staaten in die liberale Weltordnung einzubinden. Das wurde versucht, hat aber nicht geklappt. Russland ist das beste Beispiel dafür. Dieser Fall erzeugt nun die Schockwellen, die durch die ganze Welt gehen. Und dieser Grundkonflikt dominiert das Geschehen und verlangsamt alle anderen Bereiche: Sicherheitspolitik, Klimapolitik, Entwicklungspolitik, Handel. Es geht nirgendwo voran. Jedenfalls nicht in den liberalen Staaten, die sich mit diesen Politikbereichen beschäftigen."Was für Kompetenzen sind in der Politik erforderlich, um mit Situationen wie diesen in Zukunft umzugehen?
Simon Koschut: "Ich glaube, es sind drei Dinge, die wichtig sind für politische Entscheider:innen. Das Erste hatte ich im Prinzip schon genannt. Das ist die Fähigkeit, zu wissen, wohin man will. Also: klarer Kompass und klare Zielrichtung für sich und für andere. Das ist, glaube ich, der erste wichtige Aspekt.Der zweite wichtige Aspekt ist nach wie vor Fachwissen. Ohne Fachkenntnis geht es einfach nicht. Ohne das Erlernen wichtiger Methoden und Kenntnisse, um in dieser Welt zu bestehen und um Führung überhaupt übernehmen zu können. Das hat sich nicht geändert. Das ist nach wie vor entscheidend und das wird uns auch KI nicht abnehmen können. Mit Fachwissen meine ich aber nicht, dass man das Lexikon auswendig aufsagen kann. Sondern ein kritisches Denken, dass man nicht alles planlos übernimmt, was einem vorgegaukelt wird, sondern selbst nachdenkt und prüft, womit man es zu tun hat: ob Fake News oder echte Information. Das muss ich eben auch als Führungspersönlichkeit bewerten können. Wenn ich das nicht kann, muss ich mich auf andere verlassen.
Und das dritte ist eine emotionale Komponente: Empathie. Denn das ganze Wissen der Welt bringt Ihnen nichts, wenn Sie das Wissen nicht anwenden und Menschen nicht mitnehmen können. Um Leute für Ihre Ziele zu begeistern und zu überzeugen, dass sie dasselbe Ziel verfolgen wollen wie Sie selbst, brauchen Sie Empathie."
Wie lässt sich Empathie schulen?
Simon Koschut: "Früher gab es dafür beispielsweise den Zivildienst. Soziale Arbeit entwickelt Empathie ganz stark. Wir reifen in Situationen, in denen wir mit anderen Menschen konfrontiert sind: mit deren Leben und deren Sorgen und deren Leid. Dann entwickeln wir ein Gefühl dafür, wie es anderen Menschen geht. Wenn man das auf den Universitätsbetrieb herunterbricht, ist Gruppenarbeit sehr hilfreich. Sie können in einer Gruppe nicht einfach so Ihren eigenen Weg durchziehen und erwarten, dass alle anderen mitziehen. Sie müssen verstehen, was die anderen wollen und wie die sich fühlen. Erst dann können Sie sie abholen und überzeugen. Die Gruppenarbeit ist an unserer Uni nicht bloß entscheidend in der Ausbildung. Sondern wir sind auch eine der wenigen Unis, die das systematisch ermöglichen können, weil wir eben längere Seminare habe und kleinere Gruppen. Das heißt, wir haben die Zeit dafür, diese Gruppenarbeiten zu ermöglichen. Ich habe früher an einer anderen Uni gelehrt, wo das gar nicht möglich war, weil viel zu viele Teilnehmende in den Seminaren waren. Da können Sie keine Gruppenarbeiten machen. Gruppenarbeit könnte man bei uns fast als Alleinstellungsmerkmal festmachen."ZU-Präsident Klaus Mühlhahn hat jüngst angesprochen, dass nun die Generation an die Universitäten strömt, die mit den weltweiten Jugendbewegungen und Klimaprotesten aufgewachsen ist. Beobachten Sie das auch?
Simon Koschut: "Ja, das ist eine Generation, die unterscheidet sich sehr stark von der vorhergehenden. Mir fällt auf, dass bei dieser Generation die Achtsamkeit als Wert stark ausgeprägt ist. In der Generation vorher ging es stärker um Individualismus und Karriere. Hier geht es mehr um Gemeinschaft und Rücksicht aufeinander. Die machen keine unbezahlten Praktika und wollen sich nicht für die Arbeit aufreiben, sondern eine Work-Life-Balance. Eine junge Studie zeigt, dass die psychische Belastung für Studierende in Deutschland deutlich zugenommen hat. Die sind nicht mit dem Turbo des Neoliberalismus der 80er und 90er aufgewachsen, sondern mit den Krisen. Vor der Klimakrise noch die Wirtschafts- und Finanzkrise. Das äußert sich in einem stärkeren Sicherheitsbedürfnis und fördert offensichtlich, dass man aufeinander achtgibt. Wenn man das weiterdenkt, bildet sich da eine Generation von Aktivisten, Entscheidern und Chefsesselinhabern, die Wert auf Gemeinwohl und Rücksicht auf Minderheiten legen."
Pessimismus ist da unangebracht?
Simon Koschut: "Nein, muss man wirklich nicht. Ich finde, die Generation macht das sehr gut. Deswegen mag ich unsere Studierenden ja auch, weil sie das an der Uni wirklich leben. Anders ist es, wenn wir die Universitätswelt verlassen und in andere Milieus und Arbeitswelten blicken. Da sehen wir eine Gegenbewegung, die sehr stark auf andere Werte setzt. Die suchen auch nach Sicherheit, finden aber andere Antworten: in autoritären Figuren, Nationalismen und Fremdenfeindlichkeit und so weiter. Also genau das Gegenteil. Und da besteht die Gefahr, dass das in eine starke Polarisierung abdriftet. Eine Generation, die sich am selben Problem – möglichst viel Sicherheit in einer unsicheren Welt – in zwei Gruppen ausdifferenziert."Müssen wir um diese beiden Gruppen werben?
Simon Koschut: "Vermutlich ist es so. Wir müssen jedenfalls Antworten für sie finden. Umso einfacher diese sind, umso populistischer werden sie wohl sein. Umso nachhaltiger sie sein sollen, umso komplexer werden sie sein und umso mehr Aufwand muss man dafür betreiben: um sie zu vermitteln und auch um sie zu verstehen. Das sehe ich auch als die große Aufgabe für uns als Universität: dass wir diese Generation für uns gewinnen, sie ausbilden und ihnen kritisches Denken und Wissen vermitteln, damit sie in dieser unsicheren Welt bestehen und sich eben nicht von vermeintlich einfachen Antworten locken lassen. Ich glaube, da haben wir als Universität eine ganz wichtige Verantwortung."- Herr Michael Scheyer
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